Hinweis: Die Reise fand im August 2018 statt. Der Text ist im Mai 2021 entstanden. Ein Jahr vor dem russischen Überfall der Ukraine, aber 7 Jahre nach der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass.
Wir befinden uns im Flugzeug eines ungarischen Ryanair-Pendants. Es ist ungefähr 16 Uhr, als wir uns im Landeanflug befinden. Aus der Luft kann ich schon den Flair der Stadt erkennen: ein Blockbau nach dem anderen (natürlich noch aus den sozialistischen Zeiten), die aber vor allem eins sind: BUNT! Es ist dieser Gegensatz, der eine Faszination in mir auslöst und es ist dieser Gegensatz, der sich durch die ganze Stadt zieht. Ich erkenne aber auch das zweite Leitmotiv des Landes: die Liebe zur Heimat. Schon von weitem erkenne ich die große Mutter-Heimat-Statue. Aber wie diese Statue steht die ganze Heimatliebe immer im Spannungsfeld zur düsteren Vergangenheit und zur düsteren Gegenwart.


Gegen 17 Uhr verlassen wir den Flughafen. Im Vergleich zu Frankfurt ist er winzig. Bei dem Vergleich aber auch keine große Kunst. Kunst ist hingegen der nächste Anblick. Denn beim Verlassen des Flughafens sticht mir direkt etwas ins Auge. Die Ukrainer sind farbenfroh. Für Touristen auf LSD sei daher eine Reisewarnung ausgesprochen.

Bis zu unserem Hotel sind es ziemlich genau 5 Kilometer. Wir entscheiden uns für einen Spaziergang zum Hotel. Unser Gepäck ist leicht und so lässt sich perfekt die Stadt entdecken. Es ist die Stadt der Gegensätze: Am Straßenrand stehen viele Bäume und noch mehr Blumen, während auf den Straßen rußverschmierte Autos fahren, die die ersten Autos meiner Eltern sein könnten. Die Gebäude am Straßenrand sind geprägt von Block-Hochhäusern, Kirchen, staatlichen Gebäuden und ein paar Bildungseinrichtungen. Die staatlichen Gebäude strahlen vor allem eins aus: Gelb und Blau. Die ukrainische Landesflagge weht stolz im Wind über den Gebäuden. Man sieht, dass die Stadt im Wandel ist. Der Fortschritt schleicht sich langsam ein, aber im Großen und Ganzen sind die Häuser, Wege und Autos doch eher in die Jahre gekommen. Ich entdecke viele Baustellen und ich weiß, in 20 Jahren sieht hier die Welt schon ganz anders aus.

Gegen 18 Uhr sind wir am Hotel und haben vor allem eins – Hunger! Natürlich gab es im Billigflieger kein Essen und das letzte Essen, das wir hatten, war das Frühstück in Deutschland. Wir finden in der Nähe unseres Hotels ein Restaurant mit einem All-you-can-eat-Buffet mit lauter regionalen Spezialitäten. Ich bin kein Foodblogger und es ist schon länger her, daher kann ich leider keine Details mehr liefern. Im Großen und Ganzen erinnert es an das Essen von Minsk. In dem Moment waren wir einfach so hungrig, da war uns alles egal. Danach geht es zum Supermarkt, um die Getränke und Snacks für die nächsten Tage zu besorgen. Die passenden Hrywnja hatten wir bereits in Deutschland getauscht. Mein Vater erzählte immer, wie es war, als Wessi im Osten einkaufen zu gehen und sich reich zu fühlen. Ich verstehe jetzt, was er meint.
Ich glaube, fast jeder kennt das Gefühl. Dieses Gefühl am Morgen, wenn man am Tag zuvor zu viel getrunken hat. Dieses Gefühl habe ich an diesem Morgen – nur schlimmer. Nur habe ich gestern nichts getrunken. Anscheinend ist die ukrainische Landesküche nicht für jeden bestimmt. Mein Frühstück beschränkt sich auf Tee und einen trockenen Toast. Mehr schafft mein Magen einfach nicht. Immerhin ergeht es meinem Bruder und meiner Mutter ähnlich. Nur mein Vater, der von uns allen auch am meisten gegessen hatte, ist topfit. Warum? Ganz einfach, er hatte nach dem Essen in weiser Vorausicht die erste kleine Flasche Horilka geöffnet. Natürlich ist diese Studie nur sehr beschränkt aussagekräftig, aber an diesem Morgen ist das erstmal egal. Es ist jetzt das angesagt, was auch an den anderen Morgen gilt: abwarten und Tee trinken, irgendwann wird es schon besser.
Die lokale Küche erfordert immer auch die lokale Kneipe.
Meine neue Lebensweisheit
Was ist jetzt aber dieser горілка? Es ist ukrainischer Wodka, aber das darf man in der Ukraine nicht sagen, sonst wird man sehr intensiv eines Besseren belehrt. Nun aber zurück zu den schönen Dingen des Lebens. Meinem Magen geht es zwar noch nicht viel besser, aber jetzt geht der Spaß erst richtig los.
Wir gehen zur U-Bahn. Unser erstes Ziel sind die legendären Höhlenklöster, die seit 1990 UNESCO-Weltkulturerbe sind. Auf dem Weg zur U-Bahn fällt mir etwas auf: Auf den Straßen sind unglaublich viele Menschen in Militäruniform unterwegs. Bei einem Land, das sich de facto im Kriegszustand befindet, eigentlich kein Wunder, aber für mich doch befremdlich. Für jemanden, der glücklicherweise in einem geeinten und friedlichen Europa aufgewachsen ist, eine surreale Vorstellung. Jetzt aber zu einem viel größeren Problem: Ich soll die Tickets für die U-Bahn kaufen, kann aber weder ukrainisch noch russisch, noch kann die Verkäuferin englisch. Mit vielen Händen und vielen Füßen schaffe ich es dann doch. Dann geht es runter zur U-Bahn und wenn ich sage runter, dann meine ich runter. Die U-Bahn ist eine der tiefsten der Welt. Und sie ist vor allem eine der vollsten der Welt. Und wenn ich sage voll, dann meine ich voll! Und das obwohl sie im 2-Minuten-Takt fährt. Nach 5 Höllenminuten sind wir endlich an der Station Dnipro. Der Anblick ist dafür paradiesisch. Wir befinden uns in einer luftigen Höhe im Vergleich zu vorher und haben einen fantastischen Blick auf das funkelnde Blau des Dnepr.


In der Theorie ist die Station vom Höhlenkloster nicht ganz so weit entfernt. Der Weg ist aber nicht ganz so einfach wie gedacht. Zahlreiche verschlungene Wege führen zu dem Hügel, auf dem die Hauptanlage steht. Diese ist umringt von zahlreichen kleineren und größeren Kirchen. Meine theoretischen Kenntnisse über das Kloster halten sich in Grenzen, daher meine einfache subjektive Empfindung: prunkvoll, bunt, mysteriös und faszinierend. Die Klöster bestehen aus zahlreichen Katakomben und unterirdischen Gängen – daher der Name. Weihrauch liegt in der Luft, Kerzen schimmern in dunklen Gängen und tanzen in der Reflexion der goldenen und silbernen Ikonen. Es ist eine Aura, die sich kaum in Worte fassen lässt. Fotografieren ist in den Katakomben strengstens verboten. So bleibt mir nur der orthodoxe Kirchenduft in der Nase. Wieder an der Tagesoberfläche fällt uns sofort das charakteristisch Orthodoxe auf: bunte helle Farben in Kombination mit Gold, viel Gold. Und die Altäre strahlen ein güldenes Antlitz aus, was wahrscheinlich selbst ein bestimmter James Bond Antagonist als zu viel Gold beschreiben würde. Ich wandle durch die Anlagen und lasse mich verzaubern. Der strahlendblaue Himmel und die Sonne, die sich überall reflektiert, helfen dabei, dass sich dieses Kloster in einen magischen Ort verzaubert. Ein magischer Zauber weht durch die Luft und ich tue das einzig Richtige – es genießen.




Nun aber zu den ernsten Dingen. Wir verlassen das Kloster. Die Mutter-Heimat-Statue, die an die grausame Besatzungszeit erinnert, die ganzen unzähligen Militärfahrzeuge, die präsentiert werden, die Erinnerungstafel an alle Gefallenen und natürlich das Museum zur Geschichte der Ukraine. Dort stehen am Anfang auch wieder Militärfahrzeuge. Diesmal aber komplett zerstört und gerade noch vor 2 Wochen im Einsatz im Osten des Landes gewesen. Es stimmt mich sehr bedenklich. Trotzdem ist dieses Land so unfassbar stolz und heimatverbunden. Auf dem zentralen Platz steht sogar ein Panzer in den Nationalfarben. Ich weiß nicht, ob ich es verstehen kann, aber interessant ist es definitiv.




Glücklicherweise endet der Tag erfreulicher. Der Hügel, auf dem wir sind, ist bewaldet und der Rückweg verläuft durch das Grün. Das Glück kehrt wieder ein, denn nichts tue ich lieber, als durch die grüne Natur zu laufen. Und so endet der Tag glücklich.

Der heutige Tag beginnt wesentlich besser. Das Abendessen gestern wurde zum Glück auch nicht in der regionalen Küche eingenommen. Diesmal laufen wir zu unseren Zielen und dabei fällt wieder etwas direkt auf. Es wimmelt nur so von kleinen Marktständen. Dicht an dicht steht ein Stand an dem nächsten. Besonders auffällig: die wahnsinnige Anzahl an Blumenständen. Aber bei all der botanischen Schönheit geht unser Weg weiter Richtung Zentrum. Es geht zum Majdan, jenen berühmten Platz, wo Freiheit und Solidarität immer wieder verteidigt wurden. Das große Unabhängigkeitsdenkmal wacht über den Platz und verleiht die entsprechende Würde. Tafeln erinnern an die Proteste von 2014 und Blumen am Rand erinnern an die, die ihr Leben im Kampf für die Freiheit ließen. Immer wenn die Schönheit dieser Stadt durchkommt, werde ich an die dunklen Zeiten des Lebens erinnert.

Dann geht es weiter durch die Stadt. Das Stadtbild ist geprägt von staatlichen Gebäuden, Kirchen, Parks und vor allem eins: Europaflaggen. Oft sehen wir die Flaggen an Gebäuden hängen, ein Anblick, den es in Deutschland kaum gibt. Die Innenstadt macht einen guten Eindruck. Sie ist sauber und die meisten Häuser sind in einem schönen Zustand. Von der Architektur aber eher historisch und wenig modern. Tief im Herzen sind die Ukrainer eben doch noch sehr traditionsbewusst und denken oft an vergangene Tage.

Dann geht es weiter zur fast tausend Jahre alten Sophienkathedrale, die auch zum UNESCO-Welterbe zählt. Erneut erlebe ich so manche Kommunikationsbarrieren. Denn Englisch ist hier noch echte Mangelware. 4 Eintrittskarten lassen sich noch leicht gestisch darstellen, aber wie erklärt man nur, dass man Student ist? Die Kirche ist im Vergleich zu den Höhlenklöstern etwas weniger pompös, aber jetzt auch nicht gerade dezent und bescheiden. Die Kunst kommt aber natürlich auch hier nicht zu kurz.



Bevor es weitergeht, müssen wir zur Post, um noch etwas Geld umzutauschen. Es heißt, da seien die Kurse wohl am realistischsten. Die Poststation ist gut besucht. Wir müssen lange anstehen. Vor uns steht ein junger Mann, der uns anspricht. Er hat gehört, dass wir Deutsche sind und spricht uns in ganz gebrochenem Deutsch an. Er ist LKW-Fahrer und oft in Deutschland unterwegs. Er gibt damit an, dass er bald wieder in Deutschland sei, da er einen neuen guten Kontrakt habe. Selbst wenn dieser gute Kontrakt wahrscheinlich Lichtjahre vom deutschen Arbeitsschutz entfernt ist, so sehe ich trotzdem freudiges Funkeln in seinen Augen. In einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Gestik lobt er uns Deutsche und schwärmt von unseren Autobahnen.
Nach diesem interkulturellen Intermezzo geht es für uns weiter zum St. Michaelskloster. Der Weg führt uns am Gelände des Außenministeriums vorbei. Die Säulenarchitektur ist absolut herrlich!

Kurz vor dem St. Michaeliskloster wird man wieder an die düsteren Zeiten des Landes erinnert. Ein Denkmal erinnert an die Opfer des Holodomor, jener Hungersnot in der stalinistischen Sowjetunion mit schätzungsweise über drei Millionen Todesopfern. Auch das Kloster litt unter dieser Zeit. So wurde es 1936 gesprengt und erst in den 90ern wieder aufgebaut. Aber all die Fakten und die Realität scheine ich zu vergessen, wenn ich das wunderschöne himmelsblaue Kloster sehe. Das Kloster strahlt trotz des Goldes durch diese blaue Farbe eine solche Leichtigkeit aus, die die Seele in freiere Dimensionen führt.


Die weitergehende Route verläuft durch einen Park. Ein bisschen Grün zur Abwechslung tut gut. Die frische Luft im Umfeld der vielen Bäume ist eine willkommene Alternative zu den vollen Straßen. Ein paar Eichhörnchen streifen unseren Weg und dann sind wir auch schon am Ziel. Dem Denkmal der Völkerfreundschaft. Aus heutiger Sicht ist die bittere Ironie kaum zu übersehen. Dennoch ein Musterbeispiel für die Politik der Sowjetunion – pompös und realitätsfern.

Was steht wohl als Nächstes auf unserem Programm? Richtig, eine Kirche. Ich frage mich mittlerweile, was die Menschen hier mehr lieben: ihr Land, ihre Traditionen oder die Kirche? Die St.-Andreas-Kirche ist eine kleine Barockkirche mit dem Prädikat klein aber sehr fein.

Weiter geht es zum goldenen Tor. Es erinnert an eine ganz andere Epoche der Geschichte, die im Innenraum des Tors ausgestellt wird. Das Tor ist eine angenehme Abwechslung zu den ganzen Kirchen und Staatsbauten. Neben dem Tor stehen ganz viele Verkaufsstände, so wie eigentlich überall hier. Hinter einem Stand für Bücher sitzt ein älterer Herr. Als wir an ihm vorbeilaufen, hört er, dass wir Deutsche sind. Er springt auf und hält uns ein Buch vor die Nase. Es ist die deutsche Version von Hitlers Mein Kampf. Wir Deutsche müssen wohl noch etwas an unserem Ruf im Ausland arbeiten.

Aber auch der Konsum darf nicht zu kurz kommen, wir brauchen für das Abendessen ja genügend Horilka. Es geht zum Tsum, der kleinen Schwester vom Moskauer GUM.
Und nun geht es weiter zur letzten Kirche. Die Wladimirkathedrale ist neuer und somit nicht ganz so alt wie die bisherigen Kirchen. Bei dem strahlendblauen Himmel passt die gelbe Kirche aber perfekt zur Stadt. Eine Kirche als große Ukraine-Flagge, das passt zu dem Land.

Nun aber auch etwas Bildung! Nach einem Parkspaziergang geht es weiter zur Taras-Schewtschenko-Universität. Ein sehr schönes rotes Gebäude. Schewtschenko gilt als ukrainischer Nationaldichter und Begründer der ukrainischen Literatur. Die ukrainische Sprache und die russische Sprache sind sehr ähnlich, aber doch unterschiedlich. Und auf diese Unterschiede sind die Ukrainer sehr stolz.

Und dann ist der Tag auch leider schon wieder vorbei und das Abenteuer Ukraine ist zu Ende.


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5,00 €
Die Reise erfolgte im September 2018



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