Weiß, weiß und nochmals weiß. Wie gestern ist heute alles weiß. Schneeflocken hängen an den kleinen Ästen des Baumes vor unserer Hütte. Die Wiesen, Häuser und Berge sind alle weiß. Noch ist das Weiß dunkel, aber ein dünner Streifen orangefarbener Hoffnung erscheint im Hintergrund.

Während in Deutschland die ersten Frühlingsgefühle erwachen, verfalle ich in einen wunderbaren Winterschlaf. In einen lebhaften Winterschlaf. Ich sitze im Auto und klebe an der Scheibe. Hyperventilierend wie ein Hund im Sommer. Nach jeder Kurve wird die Landschaft noch schöner. Als wir losgefahren sind, dachte ich, das wird ein normaler Tag. Ich kenne Island. Ich war schon einmal hier. Vor elf Jahren. Das war aber ein anderes Island. Ich bin zum ersten Mal in diesem Island. Nicht wegen der elf Jahre, sondern weil ich jetzt im Winter hier bin und nicht im Sommer. Ich dachte, es wird eine Rundfahrt durch eine alte Liebe, aber es ist die Entdeckungstour einer neuen Liebe. Der Golden Circle ist nicht Gold, er ist weiß. Und dieses Weiß macht ihn so wertvoll. Ich bin Autor und doch fehlen mir die Worte für diese Schönheit. Jede Schneeflocke ist ein Glücksgefühl und die gibt es hier wie Sand am Meer. Wie kann es sein, dass ein Land sich so verändern kann? Wie kann ein Land so traumschön sein? Womit habe ich es verdient, dieses Glück zu erleben?



Die Straße führt uns bis in einen der drei isländischen Nationalparks. Wir stehen auf einem Parkplatz und schauen in die Ferne. Vor uns liegt der Thingvellir-Nationalpark. Jener Nationalpark, wo Europa auf Amerika trifft, wo Island seine demokratischen Wurzeln hat und jener Nationalpark, der seit 2004 UNESCO-Welterbe ist. Das einzige, was zählt, ist die atemberaubende Schönheit des Ausblicks. Schnee, Bäume und ein See, all das, was mein Herz begehrt, sind direkt zusammen. Wir stehen am Anfang des Nationalparks und können die Grenzen des Parks in der Ferne nicht mehr erkennen. Die Schönheit erscheint so endlos und doch vergänglich. In ein paar Monaten wird der Ort ein anderer sein und trotzdem noch immer atemberaubend schön.

Wenig später wir sind am Ziel angekommen. Das Besucherzentrum liegt mitten im Herz des Nationalparks und ist mehr Parkplatz als Besucherzentrum. Hier können wir unser Reisegefährt abstellen und uns auf Erkundungstour machen. Wir kommen nicht weit, da lockt die nächste Aussichtsplattform. Die Landschaft ist zu schön. Kein Wunder, dass hier vor mehr als 1000 Jahren die Wikinger zur Gesetzes- und Rechtsberatung zusammentraten oder 1000 Jahre später die Republik ausgerufen wurde. Ein wahrlich historischer Ort, doch mich fesselt die Aussicht. Ist sie es oder die kalte Luft, die mein Atmen so schwerfällig macht? Besonders macht diesen Ort aber die Tatsache, dass hier die eurasische Erdplatte auf die amerikanische Erdplatte trifft. Ich kann hier buchstäblich auf zwei Kontinente schauen, selbst wenn das auf den ersten Blick nicht auffällt. Ich wandere zwischen Europa und Amerika wie der perfekte Weltenbummler. In Amerika laufe ich und in Europa klettere ich wie eine Bergziege auf den steinigen Hügeln. Alles für den perfekten Atemzug der Freiheit und des Glückes.




Wir spazieren die Schlucht entlang, begleitet vom Plätschern eines kleinen Flusses am Wegesrand. Im Laufe des Weges fliegen uns Schneeflocken ins Gesicht und versetzen uns mit Kältestichen in neue Ekstase. Es schneit und das ist so schön! Nach 20 Minuten erreichen wir unser Ziel. Einen Wasserfall zwischen den Kontinenten. Unser erster Wasserfall, aber definitiv nicht der letzte Wasserfall der Reise.


Es rauscht und plätschert wieder. Nach einer guten Stunde stehen wir vorm nächsten Wasserfall. Es ist leerer hier, denn der Bruarfoss ist kein Haltepunkt der Standardroute der Reisebusse. Und so können wir in Ruhe dem sanften Rauschen des Wassers zuhören und innehalten. Jeder Liter Wasser, der an mir vorbeifließt, ist wie ein Dopamin-Molekül, das gerade durch meine Nervenbahnen fließt. Warum dieser Wasserfall so leer ist, wird mir bei der Rückfahrt bewusst. An sich liegt der Parkplatz nicht einmal zwei Kilometer von der Hauptroute entfernt. Diese zwei Kilometer sind Feldweg. Tief verschneiter Feldweg mit Schlaglöchern. Angst vor einem Blitzer müssen Reisende auf dem Weg nicht haben.

Die Dichte der Reisebusse zeigt an, dass wir bei der Hauptattraktion der Route angelangt sind. Wir sind wieder am brodelnden Island angekommen. Vor uns stehen Warnschilder. Nicht die Wege verlassen, nichts anfassen und der obligatorische Hinweis darüber, wie weit das nächste Krankenhaus entfernt ist (sehr weit). Wir stehen am Rande des Großen Geysirs, dem Namensgeber aller Geysire. Vor ihm müssen wir keine Angst haben. Er bricht selten aus. Das war vor 11 Jahren so und das ist es noch heute. Vor elf Jahren durfte ich aber bereits den benachbarten Strokkur erleben. Alle 11 Minuten bricht dieser Geysir verlässlich aus und ist somit eine beliebte Touristenattraktion. Ich habe jetzt schon ein paar Mal einen Geysir ausbrechen sehen. Für mich ist es fast nichts Besonderes mehr. Trotzdem fasziniert es mich jedes Mal aufs Neue. Mit einer gigantischen Wucht sprudelt hier kochendes Wasser aus dem Boden und das mit einer Zuverlässigkeit, die ihresgleichen sucht. Diese Art der Naturspektakel trifft mein Herz in einer Tiefe, die sich nicht beschreiben lässt. Ich kann wirklich nicht in Worte fassen, wie sehr die Natur unserer Erde es schafft, mich tagtäglich zu faszinieren und zu begeistern. Die vernebelte Sicht – aufgrund der großen Temperaturunterschiede von Winter zu kochendem Wasser – trübt die Freude auch nicht.

Ich war vor 11 Jahren bereits auf Island. Ich kenne die Gegend und daher passiert in meinem Kopf die Sache, die jeder Reisende hasst und verabscheut, aber trotzdem ständig betreibt. Das geistige Vergleichen. Vergleiche mit früheren Besuchen, Vergleiche mit der Heimat oder fast am schlimmsten Vergleiche mit anderen Reisezielen. Island ist einzigartig. Trotzdem vergleiche ich. Wie sehr ich mich dafür verabscheue…
Wir erreichen den Gullfoss. Einer der bekanntesten und größten Wasserfälle Islands. Ein gigantisches Naturschauspiel. Und obwohl ich hier schon einmal war, kommt er mir vollkommen anders vor. 2014 strahlte die Sonne, es war klar und lebhaft. Jetzt ist es verschneit, trüb und erdrückend. Der Besuch ist auch für mich ein komplett anderes Erlebnis. Ich versuche, zu vergleichen und den Unterschied zu verarbeiten, aber das halte ich lange durch. Zu schön ist der neue Anblick.


Auf dem Weg zum großen Finale liegt am Wegesrand ein Wasserfall, was auch sonst. Auch der dritte Wasserfall des Tages ist nicht weniger schön als die vorherigen Wasserfälle des Tages. Der Faxi ist nicht so hoch, dafür umso breiter.

Wir verlassen anschließend die touristische Route des Golden Circles. Die leeren isländischen Straßen werden einsam. Der graue Asphalt verschwindet und wird durch eine dünne weiße Schicht aus Schnee bedeckt. Die Natur ist genau so schön wie zu Beginn des Tages, nur jetzt menschenleer.

Die Schneedecke ist mittlerweile richtig dick und wir sind von jeglicher Zivilisation entfernt. Wir fahren auf einer hügeligen Landstraße zum gefühlten Ende der Welt. Und genau das wollen wir auch, wir haben uns nicht verfahren. Mitten in diesem Nichts gibt es eine heiße Quelle. Ich hoffe zumindest, dass diese Quelle heiß ist und kein Reinfall wird. Nach 20 Minuten Abenteuerfahrt erreichen wir unser Ziel. Drei Autos markieren es. Drei Dacia Duster. Das ganze Land besteht aus diesem Automodell. Jetzt stehen hier vier. Die heiße Quelle versorgt drei kleine Natursteinpools mit Wärme. Der Ort ist so klein, dass keine zwei Dutzend Menschen reinpassen. Primär deswegen gibt es zeitlich begrenzte Eintrittskarten für diesen Ort. Das finde ich vollkommen in Ordnung, denn diese Perle der Schönheit am Ende der Welt soll nicht durch Übertourismus zugrunde gehen. Die Umkleidekabinen sind ca. 5 Gehminuten von der Quelle entfernt. Jetzt zeigt sich der Intelligenzunterschied zwischen Frauen und Männern. Meine bessere Hälfte hört auf die Dame vom Ticketverkauf und hat Jacke und Schuhe an. Ich spaziere barfuß und nur in Badehose durch den Schnee. Jeder Schritt sticht wie tausend kleine Nadeln in die Füße. Mit jedem Schritt werden die Nadeln größer. Die kalten Winde schlagen gegen meinen nackten Körper und bringen mein Herz zum Höherschlagen. Ich sehne mich nach der heißen Quelle und hoffe verzweifelt, dass sie wirklich heiß ist. Durchgeschüttelt setze ich meinen Fuß in das Wasser und sofort beginne ich zu lächeln. Was für eine Wohltat! Die Quelle ist angenehm heiß. Auch meine Freundin lächelt. Ihr Lebenstraum ist in Erfüllung gegangen. Wir liegen am Ende der Welt in einer heißen Quelle, umringt von Eis und Schnee.


Die Reise erfolgte im März 2025

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