Lose yourself in nature and find peace
Ralph Waldo Emerson
Stille. Der Trubel der Stadt geht weiter und doch ist alles, was ich höre, Stille. Denn heute bin ich alleine unterwegs. Deniz und Johanna genießen weiter den Hedonismus Galways, während ich die Weite Connemaras erfühlen will. Ich bin gelassen. Ich fokussiere mich auf den Moment, doch tief im Herzen will ich mich heute einfach treiben lassen und in der irischen Natur versinken.
Im Bus auf dem Weg in die große Weite fange ich an, mich treiben zu lassen. Der Tourguide, ein älterer und zutiefst freundlicher Ire, fängt an, über die Geschichte Galways zu erzählen. Doch meine Ohren empfangen nichts. Denn ich habe nur Augen für die paradiesische Landschaft, die ich aus den verschmierten Scheiben des Busses nach und nach erkennen kann. Jene Landschaft, die meinen Puls zugleich schneller und langsamer schlagen lässt. Je länger wir unterwegs sind und je weiter wir uns von Galway entfernen, umso intensiver wird es. Der Blick aus dem Fenster ist ein Blick ins Glück.
Nach einer Weile erreichen wir den ersten Zwischenstopp. Es geht zu einer kleinen Brücke. Klein aber (anscheinend) weltberühmt, da diese Brücke im mehrfach Oscar-prämierten Film „The Quiet Man*“ von 1952 eine wichtige Rolle spielt. Meine Mitreisenden, alle mindestens doppelt so alt wie ich (eher dreifach, wenn nicht sogar vierfach), sind begeistert. Doch während alle von dieser Brücke fasziniert sind, zieht mich die irische Natur noch tiefer in ihren Bann. Ich habe nur Augen für diese Schönheit und versuche krampfhaft, diese Schönheit festzuhalten, damit ich mein Glück mit den zwei in Galway teilen kann. Ich bin so glücklich, dass ich mich fast schlecht fühle, weil ich mein Glück nicht mit ihnen teilen kann. Denn mit den richtigen Menschen geteiltes Glück wiegt schwerer als unsere ganze Erde.


Ich sitze nicht lange im Bus. Nach einer kurzen Zeit hält der Bus ein zweites Mal. Der Weg führt mich immer tiefer in die zauberhafte Welt Connemaras. Es ist recht früh und ein grauer Schleier bedeckt die Natur. Das unscheinbare Grau macht diesen Ort nur noch bezaubernder. Der Nebel der Ferne erweckt eine viel größere Sehnsucht. Eine Sehnsucht, immer tiefer in diese Welt abzutauchen. Einen noch schöneren Ort als diesen zu finden, selbst wenn dies schier unmöglich scheint. Und so ist dieser graue Schleier nicht nur Zeugnis der unschuldigen irischen Natur am Morgen, sondern auch ein Zeichen für das Feuer der Leidenschaft, was dieser Ort entzündet.


Es geht weiter auf den einsamen Straßen Connemaras. Die Straßen sind leer und doch bin ich nicht einsam. Die Natur gibt mir das schöne Gefühl des Alleinseins, ohne dabei Einsamkeit zu empfinden. Schönheit und Glück sind die Säulen des Elysiums namens Connemara.
Leenane. Es klingt so unscheinbar. Doch spätestens jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, wo ich mich frage: „Womit habe ich das verdient?“ So viel Schönheit, so viel Glück und so viel Lebensfreude, die ich empfinde, das kann ich doch gar nicht verdient haben. Bin ich nicht eigentlich ein viel zu schlechter Mensch, um so viel Glück geschenkt zu bekommen? Überwältigt vom Glück kann ich dieses Elysium wirklich kaum begreifen. Aber das ist nicht so schlimm. Das Einzige, was zählt, ist, wie ich mich fühle, und nicht das Sehen und Betrachten.

Connemara ist auch für seine Schafe bekannt. Zum Glück kenne ich jemanden, die irische Schafe fast so sehr liebt wie ihre Söhne oder gar fast so sehr wie ihre Hündin. Die Souvenirauswahl ist somit einfach. Es bleibt aber nur beim Souvenir für die anderen, weil mein Souvenir bereits tief in meinem Herzen sitzt.

Wir kommen nun zum eigentlichen Hauptziel der Reise. Doch warum eigentlich? Kylemore Abbey mag zwar weltbekannt sein und als Highlight der Reise verkauft werden, doch ist sie nicht mein Hauptziel. Mein Hauptziel ist die Natur und die Reise durch sie. Eine Reise, auf der ich mich einfach treiben lassen kann, beflügelt von all meinen Sinnen und Erfahrungen. Denn eigentlich ist es keine Reise durch die Natur, sondern eine Reise zu mir selbst.

Während am Eingang alle nach rechts zum Schloss laufen, laufe ich nach links. Das Schönste an Kylemore Abbey ist in meinen Augen nicht das Schloss, sondern der Ort des Schlosses. Umgeben von der grünen Kraft des Waldes ist das Schloss umzingelt von Bergen und Seen. Diese Dreifaltigkeit der Natur macht diesen Ort so besonders. Bei wirklich unbeschreiblich traumhaftem Wetter kann ich durch das große Gelände schlendern. Denn zum Schloss gehört auch ein traumhafter Garten. Mein Weg dorthin führt durch ein malerisches Grün. Die alten Bäume, der leichte Wind und der Schatten des Waldes strahlen eine so herrliche Ruhe aus, dass ich mich einfach treiben lassen will und jeden Schritt genieße.
Beim Anblick des Gartens bin ich direkt verliebt. Das entzückende Spiel der bunten Farben, die Ordnung des Gartens im Kontrast zum ungeordneten Wald und dann noch diese Symbiose mit den Bergen im Hintergrund. Es ist so paradiesisch!

Mein Herz will eigentlich nicht gehen und doch will es auf seltsame Art und Weise trotzdem weitergehen. Die brennende Sehnsucht im Herzen nach der Perfektion ist ein Streben nach Unvollendetheit, das mich immer weiter antreibt. Und siehe da! Ich entscheide mich für einen anderen Weg zurück. Mitten durch den Wald. Und es gibt für mich keinen romantischeren und malerischeren Weg als diesen, den ich hier gehe. Kein Romantiker könnte beschreiben, was das für ein Weg ist. Wie schön er ist, wie sehr er das Herz mitnimmt und wie sehr er den Geist ausbalanciert. Die Bilder sagen wahrscheinlich mehr als tausend Worte und daher will ich auch nicht weiter jene verschwenden!


Zur Romantik gehört auch die Aussicht außerhalb des Waldes. Und diese Aussicht ist majestätisch. Beim Anblicken von Bergen fühle ich mich noch kleiner als sonst, aber bei diesem Gesamtensemble fühle ich mich noch kleiner.

Kommen wir aber nun zurück zur Kylemore Abbey. Die Geschichte hinter dem Schloss ist eine Liebesgeschichte, fast so tragisch wie die einst zwischen Mimì und Rodolfo. So hat Mitchell dieses Schloss nur für seine Margaret bauen lassen, damit sie glücklich ist, weil er sie unendlich liebte. Doch Fortuna ließ das Glück nicht lange halten und so starb Margaret tragischerweise kurz nach Fertigstellung des Schlosses.

di mite circonfuso alba lunar,
in te, ravviso
il sogno ch’io vorrei sempre sognar!
Doch die Tragik der Geschichte wird kaum bewusst. Das funkelnde Blau des Sees verzückt meine Augen so, dass alles andere scheinbar untergeht. Der Sog des Sees ist so stark, dass ich ertrinke in einer Welle aus Glück, Ruhe und Zufriedenheit.

Für seine Frau hat Mitchel übrigens extra im Wald ein Mausoleum errichten lassen und hat den Rest seines Lebens damit verbracht, ihrer ehrwürdig zu gedenken. Aber auch die Kirche der Anlage half ihm nicht dabei, sein Leid zu mindern. So verkaufte er später das Gelände und so wurde es dann nach einigen Jahren wieder zu einem Kloster.


Und so endet das Kapitel Kylemore Abbey und mein Weg führt mich wieder in die weite Welt Connemaras. Dieser Weg führt mich aber auch an einen Ort, der mehr als nur „wunderschön“ ist. Dieser Ort ist wirklich elysisch. Es lässt sich gar nicht mehr in Worte fassen. Daher will ich es auch gar nicht weiter versuchen.

Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.

Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
An solchen Orten wie diesen versuchen wir immer, einen Moment festzuhalten, der sich nicht festhalten lässt. Denn das schönste Glück ist jenes, was flüchtig ist. Es verfliegt, bevor wir es gar begreifen können. Die Schönheit des Moments können wir nicht besitzen. Es ist die Schönheit der Natur, die uns besitzt.
Den perfekten Ausklang für den Tag habe ich dann in Galway. Es war bis zu diesem Zeitpunkt schon der beste Tag des Jahres, wenn nicht sogar einer der besten meines Lebens, aber dann kommt ja noch dazu, dass ich Sonnenuntergänge so unendlich liebe! Und so endet der Tag mit dem schönsten Sonnenuntergang, den ich jemals sehen durfte, und ganz wichtig: Er endet mit meinen Freunden. Denn man bedenke immer: Whatever you do in this life, it’s not legendary unless your friends are there to see it. Erst wenn man sein Glück mit seinen Freunden teilt und von seinen Gefühlen berichtet, reift dieses zur süßen Frucht und wird so wirklich greifbar. Und so fing mein Text mit Emerson an und so soll er auch enden.
A ruddy drop of manly blood
The surging sea outweighs,
The world uncertain comes and goes,
The lover rooted stays.
I fancied he was fled,
And, after many a year,
Glowed unexhausted kindliness
Like daily sunrise there.
My careful heart was free again, —
O friend, my bosom said,
Through thee alone the sky is arched,
Through thee the rose is red,
All things through thee take nobler form,
And look beyond the earth,
And is the mill-round of our fate
A sun-path in thy worth.
Me too thy nobleness has taught
To master my despair;
The fountains of my hidden life
Are through thy friendship fair.
Ralph Waldo Emerson
Die Reise erfolgte im September 2021

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